Torsten Schlüter: Allmächtiges Weiss
Das Weiß ist die ultimative Aufforderung zur Kunst. Weiß öffnet unsere Gedanken und schafft ihnen Spielräume. Weiß ist die Besinnung. Weiß ist die Zeitlosigkeit. Es ist der bewusste Zustand des Anfangs und der gefühlte des Endes. Weiß ist die Geburt und Weiß ist der Tod. Weiß ist Unendlichkeit. Das Weiß tritt ein und spricht zum Maler: „Wenn du willst, fange an – und falls nicht, dann werde ich auf Dich warten, ich stehe dir zur Verfügung, wann immer du geneigt bist, dich mir zuzuwenden. Ich bin deine Geliebte, ich stelle keine Forderungen.“ Und das Schwarz? Es tritt ein und spricht: „Breche auf! Lass es krachen! Ich öffne das Weiß, ich zerstöre das Weiß. Ich zeige die Aufgaben, schaffe das Gerüst, das Tragwerk und bringe Orientierung. Ich entreiße dem Weiß seine Unendlichkeit, definiere die Gegenwart und schaffe Raum und Zeit.“ Und irgendwo hinter alldem gibt es dann noch eine Tür, hinter der die Farben spielen und ungeduldig auf ihren Auftritt warten.
Torsten Schlüter: Hiddenseer Aufzeichnungen
Gestrandet
Kreisende Gewitter hämmern mit Regengüssen auf das Dach. In der Veranda dampfen heiße Pellkartoffeln. Durch den Raum dringt Tschaikowskis Fünfte. Den Schlaggewittern folgt der Orkan. Nasses und Rasendes vereinen sich zu einem tobenden Unhold. Der rasiert Baume, Sträucher, Hecken. Das Meer, wie von Sinnen, schäumt vor Wut. Die Stromversorgung zusammengebrochen, das Telefonnetz gekappt, Propangaskocher und Petroleumlampen sind ausverkauft. Im Funkloch sind wir sowieso. In der Frühe resigniert auch die letzte Fähre. Schiffsverkehr eingestellt. Robinsonland.
Juwelen
Eine unwiderstehliche Offenbarung! Der Ginster flutet als gelbe Haarpracht die Insel. Und zum Anhimmeln taucht, aus dem Wiesenmeer, die Ochsenzunge auf. Sie gibt als ultramarines Perlenband den Halsschmuck. Tief im Blau mit einer Spur Magenta zieht sie mit züngelnden Blüten bewundernde Blicke auf sich. Man umgarnt sie, man nennt sie „Pflanze des Jahres“. Ihr zur Seite kokettieren Zottiger Klappertopf, Hornklee, Natternkopf und Vogelwicke.
Und der Sanddorn spricht: „Ich steche Dich!“
Einen Topf und ein Seil braucht die Brunnenfrau, einen Eimer und ein Seil der Sanddornmelker. Nur widerborstig lässt sich das scharf gezackte Buschwerk zur Seite biegen. Peitschenartig schnellen die Dornenzweige zurück. Sie versprühen einen feinen Nieselregen citrussaurer Flüssigkeit, die in den Augen brennt. Dornenspitzen dringen in Knie und Oberschenkel. Auch durch die ledernen Arbeitshandschuhe schießen sie hindurch. Einige Dornenspitzen stecken abgebrochen tief in der Haut. „Dass du ewig denkst an mich!“ Zwar schmerzen die Hände, doch wie bei den Goldgräbern am Klondike, die der Rausch packt, wenn sich die ersten Goldkörnchen zeigen, gibt es auch hier kein Halten. Die Hände packen die Fruchtkolben. Die Fäuste schließen sich. Mit langsamer Abwärtsbewegung ziehen sie den Saft aus den Beeren. Der goldgelbe Saft strömt und bald liegt über dem orangegelben Dickicht ein verführerischer Duft satten Beerenaromas. Wie eine Kette um den Hals liegt der scheuernde Strick mit dem Eimer. Der füllt sich mehr und mehr. Dann baumelt er schwergewichtig und schwappend am Gürtel. Jeder Schritt will jetzt wohl bedacht sein. Behutsam tasten die Gummistiefel nun durch den dornigen Dschungel. Im Basislager fliest der kostbare Saft durch das Sieb und füllt die im Unterholz verborgenen Kanister.
Diva
Drei Tage wütet der Orkan. Dann folgt die totale Erschöpfung. Mensch und Natur hangen ermattet in den Seilen. Doch der Himmel klart auf. Gleichmäßigere Winde schieben von Westen noch hohe Wellen heran. Eigentlich ein aufreizendes Divengehabe. Als wäre nichts geschehen, trägt Madame Baltica hübsch anzusehende weisse Schaumkronen anmutig über ihrem blaugrünen Faltenrock. Eine glatte Modellvorlage. Ich versuche den Elfer zu verwandeln. Meine Hand greift nach einer kleinen langen Blechschachtel. Das blaulich schwarze Behältnis, zusammengehalten von kaum noch erkennbaren Klebebandresten, gleicht einem Schatzkästchen. Vorsichtig entferne ich die Kleberudimente. Ein Knacken und das Etui öffnet sich. Ananasduft breitet sich aus, exotisch und vertraut – ein Hauch Indischer Ozean. Kreide stiebt und schwebt als feiner Teppich zu Boden. Es kratzt und schrubbt. Die Kreide und die Kohle knirschen über das Papier. Grafischer Versuch, Modell und Augenblick ein „Seestück“ abzuringen. In und um uns bleibt der Wind der Regisseur. Er inszeniert die Dramen, er baut die Stille und er begleitet uns auf unseren Wegen durch Hohen und Tiefen zu neuen Horizonten.
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